Über die allmähliche Verfertigung der
Gedanken beim Reden nannte Heinrich
von Kleist einen Aufsatz an R[ühle] v[on] L[ilienstern], der vermutlich 1805/06
entstanden ist und in dem er seine Beobachtungen über den Zusammenhang von Sprechen und
Denken zusammenfasst (In: Anekdoten. Kleine Schriften. München 1964, 53-58).
Hier ein Auszug:
Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich
dir, ... mit dem nächsten Bekannten ... darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein
scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen
solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen. Ich sehe dich zwar
große Augen machen, und mir antworten, man habe dir in frühern Jahren den Rat gegeben,
von nichts zu sprechen, als nur von Dingen die du bereits verstehst. .. aber ...
l'appétit vient en mangeant, und dieser Erfahrungsgrundsatz bleibt wahr, wenn man ihn
parodiert, und sagt, l'idée vient en parlant. Oft sitze ich an meinem Geschäftstisch
über den Akten, und erforsche, in einer verwickelten Streitsache, den Gesichtspunkt, aus
welchem sie wohl zu beurteilen sein möchte. ... wenn ich mit meiner Schwester davon rede,
... so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht
herausgebracht haben würde. Nicht, als ob sie es mir, im eigentlichen Sinne, sagte; ...
Auch nicht, als ob sie mich durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen
es ankommt, ... Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was
ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit
den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem
Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit
aus ... Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen, der spricht, in
einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht; und ein Blick, der uns einen
halbausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt, schenkt uns oft den Ausdruck
für die ganze andere Hälfte desselben. Ich glaube, daß mancher große Redner, in dem
Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde. Aber die
Überzeugung, daß er die ihm nötige Gedankenfülle schon aus den Umständen, und der
daraus resultierenden Erregung seines Gemüts schöpfen würde, machte ihn dreist genug,
den Anfang, auf gutes Glück hin, zu setzen. ... - Ein solches Reden ist ein wahrhaft
lautes Denken. ... Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem
Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufenden, Rad an seiner
Achse. ..."