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Reden im Studium

(Frankfurt/M.: Cornelsen Scriptor)

Konzept eines rhetorischen Übungsprogramms für Studierende

Dr. Marita Pabst-Weinschenk

Manuskript eines Vortrags auf der Tagung der GAL e.V. in Kassel, 29.09.1995

Neben dem Lesen und Schreiben ist das Reden die wichtigste Tätigkeit im Studium jeder Wissenschaft: Von der Vorlesung über Seminarveranstaltungen, Praktika, Arbeitsgruppen ... bis hin zum Kontakt zur Sekretärin oder zu Kommilitonen in der Mensa - überall wird miteinander geredet. Das Studium selbst ist ein Kommunikationsprozeß. Und das gilt nicht nur für die Geistes- und Sozialwissenschaften, in denen viel geredet wird, weil vieles Auslegungssache ist. Selbst Mathematiker müssen sich gelegentlich über Axiome, Formeln und Beweise verständigen, und Informatiker kommunizieren nicht nur mit dem System am Großrechner.

Die Befähigung zum Reden ist eine sogenannte Schlüsselqualifikation, die im Studium in der Regel als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Es wird z.B. erwartet, daß Studierende durch Referate zu bestimmten Themen ihre Studienleistungen erbringen und damit die Scheine erwerben, die zum Abschluß des Studiums führen.

Meine Erfahrungen an der Hochschule wie auch in Weiterbildungsseminaren in Management und Verwaltung haben mir aber immer wieder gezeigt, daß man Redefähigkeiten nicht einfach voraussetzen kann, sondern daß man auch sie vermitteln muß. Werden grundlegende Redefähigkeiten nicht während der Schul- und Studienzeit erworben, müssen sie später im Berufsleben nachgeholt werden.

Die Defizite bei den Redefähigkeiten der Studierenden, aber auch der Lehrenden (!) beeinträchtigen die Qualität der Lehre:

·        Wenn Referate oder Vorlesungen z.B. so langweilig sind, daß man trotz aller guten Vorsätze nicht zuhört, liegt das nicht immer nur am Thema. Vielleicht ist der Aufbau schlecht. Wenn Beispiele und anschauliche Medien fehlen oder der Vortragende monoton oder zu schnell spricht, weil er abliest, beeinträchtigt das die Konzentration und das Verständnis der Zuhörer.

·        Wenn Studierende sich nicht trauen, selbst ein Referat zu übernehmen, sondern immer auf schriftliche Seminararbeiten ausweichen, haben sie vielleicht eine falsche Einstellung zum Reden, auf jeden Fall aber mangelnde Routine. Routine kann man nicht erwerben, wenn man sich nicht traut. Daraus kann schnell ein Teufelskreis entstehen. Das Wissen über rhetorische Wirkungen und praktische Übungen können hier Sicherheit vermitteln.

·        Wenn Arbeitsgruppen in langen, ausufernden Besprechungen nur geringe Ergebnisse erzielen, sind alle frustriert. Viele ziehen sich zurück, arbeiten lieber allein. Aber das Verstehen komplexer Zusammenhänge ist auch in Einzelarbeit mühsam. Effektive Gespräche wären eine gute Hilfe.

·        Wenn Seminardiskussionen ineffektiv sind, liegt es nicht nur an der Größe heutiger Massenveranstaltungen. Ursache ist oft ein schlechtes Klima zwischen Dozenten und Studierenden und den Studierenden untereinander. Das entsteht z.B., wenn

  • Thema und Arbeitsmethode nicht für alle transparent, d.h. verständlich und nachvollziehbar, dargestellt werden;

  • Fragestellungen und Diskussionsbeiträge zu wenig das Vorwissen und die Erfahrungen der Teilnehmer berücksichtigen;

  • keiner die Diskussion effektiv leitet;

  • manche Teilnehmer die Veranstaltung für eine selbstgefällige Demonstration ihrer umfassenden Belesenheit mißbrauchen und mit Zitaten um sich werfen,

  • andere durch dieses zur Schau gestellte Wissen eingeschüchtert sind und nicht mehr den Mut aufbringen, sich an der Diskussion zu beteiligen, geschweige denn eine Frage zu stellen.

      Eine kompetente Gesprächsführung aller Beteiligten verbessert das Klima und damit auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema.

 Die wissenschaftliche wie auch die fachdidaktische Literatur reflektiert und begründet rhetorische Einzelphänomene oder allgemein rhetorische Kommunikation, stellt aber in der Regel zu wenig Bezüge zur rhetorischen Handlungspraxis der Lesenden/ Lernenden her (vgl. z.B. Bausch/Grosse 1985; Dyck 1974; Geißner 41978, 1981, 1982; Plett 1977; Praxis Deutsch 1979) . Die herkömmliche rhetorische Ratgeberliteratur ist vielfach nicht nur rezeptologisch (vgl. Bremerich-Vos 1991) und damit ungeeignet beim Erwerb grundlegender Redefähigkeiten, die der Einzelne flexibel auf verschiedene Sprechsituationen übertragen können sollte, sondern berücksichtigt auch die spezifischen Bedürfnisse von Studierenden zu wenig.

These 1 : Es besteht ein Bedarf an handlungsorientierten Lernkonzepten für Studierende im Bereich der Rhetorik.[1]

Wie können Studierende mit einem Übungsprogramm grundlegende Redefähigkeiten erwerben? Wenn entsprechendes Material und sinnvolle Übungsanleitungen vorliegen, wie man sie z.B. aus der Freiarbeit und den Montessori-Materialien kennt, können Studierende zum Teil in Einzelarbeit, zum Teil in Kleingruppen arbeiten, Reden üben, gemeinsam ihre Erfahrungen reflektieren, Situationen simulieren etc. Es könnte aber auch eine ganze Seminargruppe, die sich inhaltlich mit einem Thema beschäftigt, parallel - evtl. mit Tutor/Innen - das Übungsprogramm erarbeiten, d.h. die vorgeschlagenen Übungen zu den inhaltlich fixierten Aspekten des Seminarthemas durchführen.[2]

These 2: Ideal ist ein Übungsprogramm zur freien, selbständigen Arbeit, das wissenschaftliche Ansprüche erfüllt.

In einem wissenschaftlich fundierten Übungsprogramm werden nicht bruchstückhaft einzelne rhetorische Erfahrungen als Patentrezepte vermittelt, sondern auf der Grundlage kommunikationstheoretischer und sprechwissenschaftlicher Erkenntnisse werden allgemeine rhetorische Kriterien entwickelt, die für jede Sprechsituation zu reflektieren sind.

Grundlage ist in meinem Verständnis das Modell von Karl Bühler (1934), der die Sprachfunktionen systematisiert und damit den Werkzeugcharakter der Sprache herausgestellt hat. Ergänzt werden die Begriffe Inhalts- und Beziehungsaspekt, die Paul Watzlawick et al. in den 70er Jahren populär gemacht haben.

Das Bühlersche Modell kann man als kommunikatives Netzwerk betrachten, und es zugleich zur Ableitung grundlegender Redesorten verwenden. Beim Reden wirken immer alle Faktoren zusammen; jede Rede ist dreifach bestimmt: Der Sprecher drückt sich aus, auf den Zuhörer wird eingewirkt und die Sache wird dargestellt. Zu Störungen der Verständigung kann es an den verschiedenen Stellen im kommunikativen Netzwerk kommen. Darüber hinaus kann man unterschiedliche Redesorten nach dem vorherrschenden Bezug auf Sprecher, Zuhörer oder Sache differenzieren:

  •   Ist die Rede vorrangig sprecherorientiert, stehen die subjektiven Bewertungen, Erlebnisse und Eindrücke des Sprechers im Vordergrund. Er erzählt über eine Sache aus seiner Sicht oder argumentiert für seine Position. Es entsteht ein Erlebnisbericht, Kommentar oder eine Meinungsrede.

  •  Ist die Rede vorrangig zuhörerorientiert, geht es vor allem um die Einwirkung auf die Zuhörer. Sie sollen etwas Bestimmtes denken oder tun. Es ist eine Belehrung, Werbung oder eine Überzeugungsrede.

  • Ist die Rede vorrangig sachorientiert, ist die Darstellung der Sache das zentrale Anliegen. Es wird über Fakten, Vorgänge, den Stand von Planungen, bisherigen Ergebnissen usw. geredet. Es handelt sich um einen Sachbericht, eine Nachricht oder eine Informationsrede.

      Diese Einteilung in Redesorten geht von der Intention aus und bietet zugleich einen sinnvollen Ansatzpunkt für die Redevorbereitung.

      Bei der Ableitung von Gesprächssorten kann man von der Differenzierung Inhalts- und Beziehungsaspekt ausgehen und personenorientierte Gespräche (Unterhaltung/Small talk, mehr oder weniger verbindlich je nach Intensität einer unproblematischen Beziehung, bis hin zum Streit bei gestörter Beziehung) von sachorientierten Gesprächen unterscheiden (Klärungs- oder Entscheidungsgespräch bzw. Konfliktlösungsgespräch,  wenn Störungen der Beziehungsebene zum Zwecke der Verbesserung thematisiert werden).

      Die rhetorischen Kriterien können in einer dreiseitigen Pyramide zusammengefaßt werden. Bei dieser Darstellung wird versucht, den Interdependenzen zwischen Form, Inhalt und persönlichen kommunikativen Einstellungen Rechnung zu tragen:

      Der erste Eindruck ist immer am stärksten von der äußeren Form (Seite 1) bestimmt; sie leitet aber auch das Verständnis des inhaltlichen Konzept der Sprechsituation (Seite 2); und aus beiden zusammen zieht man als Zuhörer Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Sprechers, auf seine kommunikativen Einstellungen (Seite 3).

Zu Seite 1:

               Die Körpersprache bildet das Fundament, darauf baut sich der Sprechausdruck und schließlich die Wortsprache auf. Die Entwicklung von der Körpersprache zur Wortsprache kann man sowohl menschheits- als auch individualgeschichtlich feststellen: Ähnlich wie sich die verschiedenen Menschheitssprachen aus den ersten Lauten der Urmenschen bei der Verständigung im gemeinsamen Tätigkeitsprozeß herausgebildet haben, so erwerben kleine Kinder in aller Welt die Wortsprache aus den ersten körpersprachlichen und lautlichen Äußerungsformen: Strampeln, Schreien usw. Erst im Laufe der Jahre wird nach und nach das differenzierte System der Wortsprache erlernt, die Bedeutungen werden aus dem Handlungskontext herausgelöst. Die Wortsprache ist also das höchst entwickelte und zuletzt erworbene Verständigungssystem (vgl. Lurija 1982, S. 29). Diese Entwicklung, die jeder gesunde Mensch durchlebt hat, wirkt immer mit, wenn wir reden. Treten z.B. Probleme bei der Formulierung auf, sei es, daß dem Sprecher ein passendes Wort fehlt oder der Gesprächspartner bestimmte Wörter nicht versteht, wird automatisch auf das einfachere, zugrundeliegende System der Körpersprache zurückgegriffen: Wir gestikulieren oder zeigen auf etwas.

               Auch die Einschätzung von Glaubwürdigkeit folgt dieser Entwicklung: Dem Augenschein der Körpersprache und der Anschaulichkeit des Sprechausdrucks glaubt man immer mehr als den Worten. Offensichtlich ist dies bei ironischen Äußerungen wie Das hast du fein gemacht oder Ich werd dir helfen. Werden sie nicht mit freundlichem Ton, netter Mimik und offener Gestik gesagt, weiß jeder - trotz des positiven Wortsinns -, daß Kritik, Tadel bzw. eine Drohung gemeint ist. Oder wenn jemand z.B. mit verärgertem, aggressivem Sprechausdruck behauptet, er sei nicht aggressiv, glaubt ihm niemand; man denkt vielmehr, daß er sehr wohl verärgert ist, aber seinen Ärger nicht zugeben will. Körpersprache und Sprechausdruck leiten immer unser Verständnis.[3]

Zu Seite 2:

               Das inhaltliche Konzept bezieht sich nicht nur auf die Sache; es geht vielmehr um das Konzept der gesamten Kommunikationssituation: Wie wird die Sache (S) dargestellt? Wie drückt sich der Sprecher (Sp) aus? Wie wirkt er auf den Zuhörer (Zh) ein? Welche Beziehung entsteht? Wie sind die gegenseitigen Einschätzungen der Situation (Sit)? Welches Hauptziel wird verfolgt? Auf der Basis dieser Einschätzung der Kommunikationssituation werden eine passende Gliederung und geeignete Argumentationsstrategien, Fragetechniken, Antwortmöglichkeiten etc. ausgewählt.

Zu Seite 3:

        Kommunikative Einstellungen erwachsen aus der Kommunikationsbiographie eines Menschen und lassen sich zurückführen auf die zentrale Frage, ob Kommunikation als Konkurrenz oder Kooperation eingeschätzt wird.

These 3: Einem rhetorischen Übungsprogramm sollte ein umfassendes
Verständnis rhetorischen Handelns zugrundeliegen.

Über das grundlegende Fachverständnis hinaus müssen Formen und Möglichkeiten des Lernens reflektiert werden. Es geht um die didaktische Relevanz, den Zielgruppenbezug und die Bedeutung des zu lernenden Gegenstands für den Lernenden. Für den Bereich rhetorischen Lernens gilt:

·        Zur didaktischen Relevanz: Es müssen die theoretisch als grundlegend erkannten Sprechsituationen differenziert werden. Dabei spielen Unterscheidungen nach Räumlichkeiten, Anzahl der Teilnehmer/Innen, festgelegte Rollen etc. nur eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist die grundlegende Zielorientierung, abgeleitet aus dem Kommunikationsmodell.

·        Zum Zielgruppenbezug: Es müssen die verschiedenen, für Studierende relevanten Sprechsituationen im Vordergrund stehen. Bei ihrer Thematisierung werden die rhetorischen Kriterien erläutert und dazu werden diverse praktische Übungen entwickelt.

These 4: Rhetorisches Lernen ist keine rein kognitive Aneignung von Wissen, sondern ein Beitrag zur Persönlichkeitsbildung.

Denn neben Erkenntnissen (vgl. die 2. Seite der Pyramide!) werden immer zugleich auch Erfahrungen gesammelt: Das Reden ist ein Prozeß, der immer auch emotional erlebt wird, und beim Reden und durch das Reden werden Verhaltensroutinen (vgl. die 1. Seite der Pyramide!) und Einstellungen (3. Seite!) herausgebildet.

Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Gestaltung von rhetorischen Lernprozessen:

1. Persönliche Betroffenheit schaffen:

  • Die Studierenden müssen angeleitet werden,

  • ihr eigenes Reden zum Gegenstand eines Lernprozesses zu machen;

  •  praktische Übungen durchzuführen und zu reflektieren (Übungs- und Lösungsteil!) und

  •  sich selbst Lernziele setzen und ihren Lernfortschritt von Übung zu Übung selbst zu kontrollieren.

2. Ganzheitliches Lernen:  

  • Geist und Körper am Lernprozeß durch Theorie/Wissen und Praxis/Können beteiligen;

  • Den ganzen Menschen als Individuum akzeptieren durch Berücksichtigung seiner persönlichen Kommunikationsbiographie; denn Redefähigkeiten und die ihnen zugrundeliegenden kommunikativen Einstellungen werden im Laufe des Lebens herausgebildet und können nur in diesem Kontext verändert werden.

  • Kein additives Vorgehen (wie erst richtig atmen, artikulieren, Textlesen, Nacherzählen, Reden etc.), sondern: Ansatzpunkt immer bei einer komplexen Verständigungssituation, auch wenn einzelne Aspekte fokussiert werden. Man kann nicht erst Körpersprache, optische Unterstützung des Vortrags durch Medien und Sprechausdruck, also motorische Sprechfertigkeiten, lernen, bevor man anfängt zu formulieren; die ganze Präsentation macht keinen Sinn, wenn sie nicht von einem inhaltlichen Konzept ausgeht.

 3. Learning by doing: Umsetzung der rhetorischen Essentuals und Kriterien in Übungen, die Erfahrungslernen ermöglichen.

These 5:            Eine sinnvoller didaktisch-methodischer Aufbau kann nicht einfach der Sachsystematik folgen.

Zur Erarbeitung einer sinnvollen Reihenfolge bei der Fokussierung auf einzelne Aspekte im rhetorischen Lernprozeß reichen die bisher vorgestellten Überlegungen noch nicht aus. Geht man davon aus, daß der Lehr-/Lernprozeß selbst ein Kommunikationsprozeß ist, sind folgende rhetorische Prinzipien auch bei der Konzeption einer Reihenfolge zu berücksichtigen:

·        Transparenz: allgemeine methodische Überlegungen und theoretischen Überblick zu Beginn als advanced organizers;

·        Motivierende Abholer für die Zielgruppe;

·        vorrangig induktives Vorgehen: Problem-Lösungs-Schema für die Erarbeitung;

·        vom Einfachen zum Komplexen (erst einfache Sprechdenk-Übungen, dann kompletter Redeaufbau); erst inhaltsbezogene Situationseinschätzung, dann einzelne Formaspekte, wobei der Sprachstil immer stark, gerade bei Studierenden im Bewußtsein ist, deshalb vorgezogen, aber auf jeden Fall nach den Sprechdenk-Übungen;

·        Reduktion von Komplexität durch einfache Grundmuster, denen eine weitreichende Bedeutung zukommt: Das rhetorische Grundmuster für Gespräche und Reden ist: Frage und Antwort. Mit diesem Grundmuster kann man von der Redevorbereitung bis zur Aussprache nach dem Referat und der Behandlung von Einwänden umgehen.

·        Ferner ist es meines Erachtens in der Erwachsenenbildung empfehlenswert, von Rede- zu Gesprächsübungen fortzuschreiten, auch wenn die Grundform des Redens der Dialog ist[4]:

  •  Denn sie reduzieren durch die feste Rollenaufteilung die Komplexität, die in einem Gespräch durch das ständige Wechselspiel der Gesprächspartner entsteht.

  •  Eine genauere Vorbereitung (die Sicherheit gibt!) ist möglich.

  • Es besteht eine objektive Notwendigkeit zum Redehandeln. Dieser gewisse Zwang zum Reden ermöglicht es auch Schüchternen, die in einer Gruppe untertauchen und immer lieber andere reden lassen würden, ihre Redeerfahrungen zu sammeln.

  • Die in Redeübungen erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten kann man auf Gesprächssituationen übertragen.

  • Man fühlt sich als Redner selbst stärker verantwortlich und erlebt deutlich, worauf es ankommt.

Wie kann nun im Einzelnen ein sinnvoller Aufbau aussehen?

Ich habe ein Übungsprogramm in 15 Einheiten entwickelt. Das Konzept liegt inzwischen in Buchform vor: Reden im Studium (Frankfurt: Cornelsen Scriptor 1995).

Darin werden die verschiedenen Aspekte folgendermaßen in 15 Kapiteln angeordnet:

Kapitel 1 vermittelt grundsätzliche Hinweise zur Lernmethodik (learning by doing, konstruktive Kritik, nicht vor dem Spiegel üben, einzelne handhabbare Lernziele setzen etc.), gibt Orientierung über unterschiedliche Redestile (direkt bzw. indirekt) und leitet an bei der rhetorischen Bestandsaufnahme: Den persönlichen Ansatzpunkt finden.

Kapitel 2 beschäftigt sich mit der Sache, es geht um Grundlagen aus der Kommunikationstheorie: Kommunikationsmodell, Inhalts- und Beziehungsaspekt, Reden in verschiedenen Situationen, Unterscheidungen von Redearten nach vorherrschendem Ziel, dem Dialog als Grundform und Frage - Antwort als Grundmuster. Das Zusammenwirken von Person, Inhalt und Form sowie der verschiedenen Zeichenebenen (Körpersprache, Sprechausdruck und Formulierung) wird in dem Modell einer Redepyramide dargestellt.

Kapitel 3 ist der grundlegenden Fähigkeit beim Reden gewidmet: Sprechdenken üben. Die Verfertigung der Gedanken beim Reden (nach Kleist) wird in Zusammenhang mit dem inneren Sprechen (Wygotski u.a.) gesetzt. Mit verschiedenen Übungen sollen die Studierenden die Funktion des Sprechens im Hinblick auf das Denken erkennen und unterschiedliche Formen inkrementeller Sprachproduktion üben: vom halblauten Lesen zum besseren Verständnis, über Selbstgespräche zum Brainstorming und freien Reden mit unterschiedlichen Hilfsmitteln.

Kapitel 4 behandelt die Unterschiede zwischen geschriebener und gesprochener Sprache: Verständlich reden. Es geht um die Verständlichkeitskriterien, Nominalstil, Klammersätze, Phrasen, Füllwörter usw.

Kapitel 5 verdeutlicht die Unterschiede zwischen Behaupten und Begründen: Besser argumentieren. Es werden verschiedene Möglichkeiten des Argumentierens gezeigt: deduktives Schlußfolgern, Syllogismen, allgemeines Argumentationsschema mit rationalen, plausiblen und moralischen Stützen. Vor manipulativen Taktiken (Schopenhauers Eristik bis zur heutigen Rabulistik) wird gewarnt, weil sie die Glaubwürdigkeit untergraben.

Kapitel 6 beschäftigt sich mit dem Aufbau. Es heißt: Referate für Zuhörer gliedern - Zur Psycho-Logik. Die Studierenden lernen das einfache Grundmodell kennen, nachdem es bereits in Kapitel 2 (verbaler Hinweis: Sich mit Fragen und Antworten vorzubereiten!) und in Kapitel 3 (Zusammenfassung des Grundmodells in Form eines Tafelbildes als Beispiel für andere Formen von Stichwortzetteln!) erwähnt worden ist. Bewährte Einstiege und Schlußpunkte mit Beispielen sowie verschiedene Möglichkeiten für die Strukturierung von Vorträgen aus der Rederhetorik folgen. - Das zentrale Problem dieses Buches macht sich in diesem Kapitel am deutlichsten bemerkbar: Losgelöst von einzelnen Referatsthemen kann man keine Gliederung entwerfen, deshalb können nur allgemeine Raster und Prozeßmodelle gezeigt werden, die die Studierenden auf ihre jeweiligen Themen selbst umlegen müssen.

Kapitel 7 beinhaltet Fragen zum Einsatz von Medien: vom Thesenpapier über Tafel, Flip Chart, OHP, Video-Clips usw. wird auf Möglichkeiten hingewiesen und allgemeine Hinweise  zum Umgang und zur Gestaltung gegeben (bis hin zur Farbgestaltung!).

Kapitel 8 stellt die Bedeutung des Sprechausdrucks dar: "Der Ton macht die Musik!" Anhand von Beispielen werden die einzelnen sprecherischen Mittel verdeutlicht und auf ihre allgemeine Wirkung als Metamitteilung, die den Sinn der Worte kommentiert, hingewiesen. Übungen: vom Transkript zur bewußten Wahrnehmung dieser sprecherischen Phänomene bis hin zur Sprechübung: einen Text sprecherisch zu gestalten.

Kapitel 9 gibt einen Überblick über die Körpersprache und sagt, worauf es ankommt: ursprüngliches Ausdrucksmittel des Menschen, Hilfsfunktion beim Sprechdenken und zusammen mit dem Sprechausdruck ständige Metamitteilung, die das Verständnis der Worte für Zuhörer leitet.

Kapitel 10 geht der Frage nach: Lampenfieber beim Referat? Man erhält Hinweise, was man dagegen tun kann: richtige Atmung, keine Beruhigungsmittel, positives Denken.

Kapitel 11 thematisiert Die richtige Einstellung zum Reden: Kommunikationsbiographie, Sicherheitszonen, positives Denken, Kooperation als Leitidee, Cohns TZI, Fisher/Urys Harvard-Verhandlungskonzept bis zu Gordons Konferenzmethode.

Kapitel 12 behandelt Die Aussprache nach dem Referat. Die Studierenden lernen die dafür wichtigen Elemente der Gesprächsführung: Behandlung von Einwänden, Antwortmöglichkeiten usw.

Kapitel 13 vertieft die Gesprächsrhetorik. Worauf kommt es an beim Diskutieren? Ping-Pong-Regel, Fragemöglichkeiten, Gesprächsverlaufskontrolle, Gesprächsleiteraufgaben, Umgang mit schwierigen Gesprächsteilnehmern bis hin zu Grundlagen der Geschäftsordnung, die geregelte Abläufe in größeren Gruppen ermöglichen und die formaldemokratischen Grundlagen der Gesprächsführung darstellen.

Kapitel 14 gibt wichtige Hinweise zum Prüfungsgespräch und der optimalen Vorbereitung darauf: Simulation im Rollenspiel und zugleich Überprüfung des Lernerfolgs bei der Überarbeitung eines Referatanfangs.

Kapitel 15 handelt von Reden zu bestimmten Gelegenheiten: Auch kleine Feierreden gehören mit zur sozialen Kompetenz von Studierenden. Deshalb wird zum Schluß auf diese Sonderform eingegangen.

Man könnte einwenden, daß Reden als mündliche Kommunikation am besten mündlich zu vermitteln ist. Das stimmt. Nicht umsonst gibt es bei dem Nachholbedarf an rhetorischer Bildung seit Jahrzehnten eine große Nachfrage nach entsprechenden Seminaren in den verschiedenen Bildungseinrichtungen. Wenn Studierende die Gelegenheit haben, an einem praktischen Rhetorik-Seminar teilzunehmen, sollten sie es tun. Die Erfahrungen in einer Lerngruppe kann kein Buch bieten.

Ein Buch ist immer abstrakter und theoretischer als ein Seminar. Es bietet den Vorteil einer umfassenden Darstellung, und es ist nicht so schnell vergänglich wie das gesprochene Wort. Man  kann einzelne Teile bei Bedarf mehrmals lesen oder etwas Bestimmtes nachschlagen.

Trotzdem: Wenn man Reden lernen will, muß man selbst etwas tun, man muß es selbst praktisch ausprobieren. Deshalb werden in dem Buch neben den Erklärungen, Hinweisen und Tips immer wieder Übungen finden.

 

Wie kann mit dem Buch gearbeitet werden?

Einige grundlegende Arbeitshinweise zeigen den sinnvollen Umgang:

1. Von der ersten bis zur letzten Seite

      Es ist empfehlenswert, das Buch vollständig von vorn bis hinten, also von der ersten bis zur letzten Seite, durchzuarbeiten. Der Aufbau folgt dem Lernprozeß: Was kann man am besten in welcher Reihenfolge lernen? So setzen nachfolgende Kapitel immer die Inhalte und Kenntnisse der vorangehenden voraus, und die nachfolgenden erweitern und spezifizieren die vorangehenden Kapitel.

      Redefähigkeit ist nicht die Summe einzelner Aspekte, auch wenn diese in einem Buch nacheinander abgehandelt werden. Querverweise zwischen den einzelnen Kapiteln weisen auf Zusammenhänge hin und geben zusätzliche Orientierung.

2. Schnelle Hilfe durch das Sachregister

      In dem Sachregister findet man die wichtigsten Stichwörter zur praktischen Rhetorik von A bis Z. Das ermöglicht einen schnellen Zugriff, wenn man etwas Bestimmtes sucht oder später noch einmal etwas nachlesen möchte.

3. Übungen in jedem Kapitel

4. Lösungen

      Zu allen Aufgaben gibt es in einem gesonderten Teil am Ende des Buches Hinweise zur Lösung. Je nach Aufgabe handelt es sich dabei um Antworten, weiterführende Hinweise oder Zusammenstellungen, die man zum Vergleich oder zur Analyse benötigt, bzw. Beispiele.

5. Weiterführende Literatur?

      Über Rhetorik ist schon viel geschrieben worden; in jeder öffentlichen Bibliothek findet man rhetorische Literatur. Darum wird in dem Lern- und Übungsbuch im einzelnen auf weiterführende Hinweise verzichtet. Wer sich darüber einen Überblick verschaffen möchte, kann in den im Literaturverzeichnis aufgeführten Bibliographien nachschlagen. Nur bei direkten Bezügen auf andere Autoren wird die übliche Zitierweise verwendet.

      Dennoch ist das Buch nicht theorielos, sondern zeigt im didaktischen Zugriff auch ein neues integratives Konzept, das sowohl auf Bühler (1934) als auch auf sprechwissenschaftlichen Traditionen (Drach, Winkler, Geißner, vgl. Pabst-Weinschenk 1993/1, 1993/2) aufbaut.

Die Grundzüge habe ich hier kurz umrissen, z.T. wird das zugrunde gelegte kommunikative Verständnis auch in Kapitel 2 des Buches expliziert, allerdings ohne weitläufige wissenschaftliche Einordnung oder Begründungen, denn die Leser/Innen sollen vor allen Dingen selbst reden lernen und nicht vorrangig nur etwas über das Reden-Lernen wissen.

 

Literatur

Bausch, K.-H.; Grosse, S. (Hg., 1985): Praktische Rhetorik. Beiträge zu ihrer Funktion in der Aus- und Weiterbildung. Mannheim

Bremerich-Vos, A. (1991): Populäre rhetorische Ratgeber. Historisch-systematische Untersuchungen. Tübingen

Bühler, K. (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena. Ungekürzter Nachdruck, Stuttgart, New York 1982

Drach, E. (1922): Wissen und Können. Ein Beitrag zur Bildung des neuen Lehrers. In: Allgemeine deutsche Lehrerzeitung (Berlin), Nr. 29/30 (28.02.1922), 340-342

Dyck, J. (Hg., 1974): Rhetorik in der Schule. Kronberg/Ts.

Endres, W. et al. (1991): mündlich gut. Weinheim/Basel.

Geißner, H. (Hg., 41978): rhetorik. München (bsv)

Geißner, H. (1981): Sprechwissenschaft. Theorie der mündlichen Kommunikation. Kronberg/Ts.

Geißner, H. (1982): Sprecherziehung. Didaktik der mündlichen Kommunikation. Kronberg/Ts.

Kleist, H. v.: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. An R[ühle] v[on] L[ilienstern]. 1805/06. Aus: Anekdoten. Kleine Schriften. München 1964, S. 53 - 58

Lurija, A.: Sprache und Bewußtsein. Berlin 1982

Pabst-Weinschenk, M. (1991): 'Von der Rede zum Gespräch'. Zur Didaktik der rhetorischen Kommunikation in der Erwachsenenbildung. In: Lüschow, Pabst-Weinschenk (Hg.): Mündliche Kommunikation als kooperativer Prozeß. Festschrift für E. Bartsch. Frankfurt/M., Bern, New York, 42-54

Pabst-Weinschenk, M. (1993/1): Die Konstitution der Sprechkunde und Sprecherziehung durch Erich Drach. Faktenfachgeschichte von 1900 bis 1935. Magdeburg/Essen

Pabst-Weinschenk, M. (1993/2): Erich Drachs Konzept der Sprechkunde und Sprecherziehung. Ein Beitrag zur Geschichte der Sprechwissenschaft. Magdeburg/Essen

Pawlowski, K.; Lungershausen, H.; Stöcker, F. (1985): Jetzt rede ich. Ein Spiel- und Trainingsbuch zur praktischen Rhetorik. Wolfsburg

Plett, H.J. (Hg., 1977): Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung. München

Praxis Deutsch (1979): Rhetorische Kommunikation. Heft 33

Watzlawick, Beavin, Jackson (1969): Menschliche Kommunikation. Bern

Wygotski, L. S.: Denken und Sprechen. (1934) Frankfurt/M. 1977

 



[1]     Auf zwei Konzeptionen, die in dem hier intendierten Sinne learning by doing ermöglichen und ein umfassendes Verständnis von rhetorischer Kommunikation vertreten, sei an dieser Stelle hingewiesen: Endres, et al. (1991) legen Übungsrunden für Schüler/Innen der Sekundarstufe I (Kl. 7-11) vor, die in Eigenregie durchgearbeitet werden können; und Pawlowski et al. (1985) haben Bausteine für erwachsene Lerngruppen in der freien Bildungsarbeit zusammengestellt.

[2]     Das pädagogische Ideal, das hinter solchen Vorstellungen steht, ist die Organisation universitären Lehrens und Lernens nach dem Prinzip des Arbeitsunterrichtes; ein Ideal, das schon Drach, der Begründer der modernen Sprechkunde und Sprecherziehung in den 20er Jahren anstrebte, leider vergeblich (vgl. Drach 1922; auch Pabst-Weinschenk 1993/1, 1993/2). Gerade angesichts der finanziellen Misere im Bildungsbereich, der oft rigorosen Stellen- und Mittelstreichungen, muß man feststellen, daß fortschrittliche Lehr- und Lernformen rückläufig sind. Denn Projekte oder mit Gruppenarbeit organisierte Einführungsveranstaltungen oder interdisziplinäre Ringveranstaltungen sind etwas kostenintensiver als der herkömmliche Universitätsbetrieb mit Vorlesungen und Seminaren: Man braucht mehr Tutor/Innen, hat einen erhöhten Zeitaufwand für gemeinsame Besprechungen und einen gesteigerten Bedarf an Materialien, die allen zur Verfügung gestellt werden müssen, d.h. zumindest erhöhter Etat für Kopierkosten!

[3]     Wenn in einem Rhetorikseminar nur auf die Punkte der ersten Seite der Pyramide eingegangen wird, kann man nicht mehr von einem umfassenden Rhetorikverständnis sprechen, sondern es handelt sich dann um reine Präsentationstechnik, die oft in Seminaren auch noch technizistisch vermittelt wird, wenn z.B. alle Teilnehmer/Innen bei der ersten Übung auf den richtigen Stand und eine offene Gestik achten sollen, bei der zweiten Übung dann zusätzlich auf die Lautstärke und die Pausen usw.

[4]     In der gemeinsamen Arbeit liegt die Notwendigkeit für Verständigung. Das kann man im Studium bei Projekten selbst erleben: Immer wieder wird die konkrete Arbeit unterbrochen, um mit den anderen Beteiligten bzw. anderen Arbeitsgruppen gemeinsame Absprachen über Ziele, Probleme oder das weitere Vorgehen zu treffen. Die Interaktion (Wechselbeziehung) zwischen den Gesprächspartnern ist die ursprüngliche Form der Kommunikation: sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Jeder Mensch lernt Sprechen im Gespräch mit Bezugspersonen, bevor er eine zusammenhängende Rede organisieren kann. Solange die Anzahl der Mitglieder einer Gruppe oder Gesellschaft überschaubar ist, kann jeder mit jedem direkt im Gespräch wichtige Punkte klären. Das ist der Vorteil von kleinen Veranstaltungen, wie man sie manchmal an der Hochschule noch bei Examenskolloquien oder in Forschungsseminaren (Teilnahme in der Regel nur nach vorheriger persönlicher Anmeldung beim Dozenten!) erleben kann. Aber mit steigender Zahl der Mitglieder entstehen Substrukturen, es wird arbeitsteilig vorgegangen, man hat nicht mehr die Gelegenheit, selbst mit allen anderen über alle einzelnen Punkte zu sprechen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit für Redeformen: Ergebnisse von Besprechungen werden berichtet, einzelne beschäftigen sich mit verschiedenen Teilaspekten, es werden Referate gehalten usw.